Sr. Fidelia

Meine Mutter starb als ich 12 Jahre alt war. Ich bin eigentlich bei Tanten groß geworden. Mein Vater war im Krieg und auch in Gefangenschaft. Im Jahr 1954 ging meine Familie auseinander. Mein Vater bekam eine Wohnung in Bitburg. Ich bin zur Ausbildung nach Köln gegangen. Mein Vater meinte, „Du musst sehen. Wenn das für dich das Richtige ist – dann mach.“

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Bei uns wurde gebetet und wir sind in den Gottesdienst gegangen, aber in der Familie gab es niemanden, der eine Verbindung zu einem Orden hatte. Ich habe mich hingezogen gefühlt. Ich mochte diese Gemeinschaft. Und Menschen helfen zu können, war für mich das Entscheidende.

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1977 bin ich nach Brück gekommen. Bis in die 90er Jahre bin ich dort in der Pflege gewesen. Dann bin ich aus der Pflege raus und bin jetzt „nur noch mit auf Station“. Für mich wäre es nichts, nur im Sessel zu sitzen. Ich muss die Kontakte haben.

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Und dann stellt sich die Frage, folgt man dem oder folgt man dem nicht? Bei mir war es so, dass ich mich von innen hergedrängt fühlte. Natürlich geht man einen solchen Schritt nicht sofort. Das hat Jahre gedauert.

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Ich beobachte. Ich bin nicht der Mensch, der gerne große Worte macht

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Es gibt viele Kollegen, die ich jahrelang kenne. Ich habe ein gutes Verhältnis zu denen. Und ich arbeite gerne auch mit jüngeren Kollegen. Ich fühle mich angenommen. Auch das ist nicht selbstverständlich.

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„Ich bin dankbar“. Ich bin dankbar, dass ich noch arbeiten und alles machen kann. Wenn ich Bewohner sehe, die manchmal 10 oder mehr Jahre jünger sind, bin ich wirklich dankbar, dass ich noch tun kann, was ich tue.

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Einfach als Mensch… Wenn ich nach meinem Gewissen und nach den christlichen Grundsätzen lebe, wenn ich das einfach lebe – dann braucht man gar nicht viel zu reden. Dann spüren die Menschen, die um einen herum sind, sie nimmt mich als Mensch wahr.

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Zunächst einmal, dass ich bei mir anfange und mich frage: „Lebe ich den Mitarbeitern das, was ich mir von ihnen wünsche, vor?“ Der Mensch. Für Vinzenz war der Mensch im Mittelpunkt. Nach Vinzenz begegnet mir im anderen Menschen Gott.

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Interview mit Sr. Fidelia

*04.05.1937
in Bitburg
abgeschlossene Ausbildung zur Kinderkrankenschwester
seit 1958 bei den Vinzentinerinnen Position:

1954 nach Köln gekommen. Zur Pflege in ein Kinderkrankenhaus
1957 mit 20 Jahren Ausbildungsabschluss
08.12.1957 Start des Postulats

Wie hat sich der Weg von der Kinderkrankenschwester zur zukünftigen Vinzentinerin ergeben?
Das Krankenhaus, an dem ich gelernt habe, war ein städtisches Krankenhaus. Aber es waren
Vinzenzschwestern da. Auf diese Weise entstand der Kontakt. Auf der Station gab es Schwestern,
die in der Leitung waren. Mich hat die Pflege interessiert und es hat mir zu gesagt, für
Menschen da zu sein.

Kommen Sie aus einem religiösen Haushalt?
Bei uns wurde gebetet und wir sind in den Gottesdienst gegangen, aber in der Familie gab es
niemanden, der eine Verbindung zu einem Orden hatte.

Gab es für Sie einen Schlüsselmoment, in dem Sie entschieden haben, ich gebe jetzt mein weltliches
Leben auf und trete in einen Orden ein?

Nein. Nicht direkt. Ich habe mich hingezogen gefühlt. Ich mochte diese Gemeinschaft. Und Menschen helfen zu können, war für mich das Entscheidende.

Wie haben es Ihre Eltern aufgenommen, als Sie ihnen gesagt haben „Ich werde Nonne“?
Meine Mutter starb als ich 12 Jahre alt war. Somit lebte meine Mutter schon nicht mehr. Ich
bin eigentlich bei Tanten groß geworden. Mein Vater war im Krieg und auch in Gefangenschaft.
Als er zurückkam, war er zunächst arbeitslos. Dann bekam er wieder Arbeit im Finanzamt.
Im Jahr 1954 ging meine Familie, zu der auch noch mein verstorbener Bruder zählte, auseinander.
Mein Vater bekam eine Wohnung in Bitburg. Ich bin zur Ausbildung nach Köln gegangen. Meine eigentlichen
Bezugspersonen waren meine Tanten. Mein Vater meinte, „Du musst sehen. Wenn das für dich
das Richtige ist – dann mach.“

1959 Einkleidung

Wie war der Anfang in einer Gemeinschaft zu leben?
Schon ein bisschen ungewohnt. Zu der Zeit war noch Vieles ganz anders als es heute ist.
Was war für Sie die größte Umstellung?
Fortwährend in Gemeinschaft zu sein. Wir waren zu zehnt im Noviziat. Aber wir haben uns alle gut verstanden.
Im Noviziat habe ich auch eine Frau wiedergetroffen, die ich bereits aus meiner Ausbildung zur
Kinderkrankenpflegerin kannte. Wir wussten nichts voneinander und haben uns dann bei den Vinzentinerinnen wiedergetroffen.

Postulat: Kinderheim in Euskirchen
Noviziat: Seminar in Nippes
Einführung in den Orden
Einführung ins religiöse Leben
danach: 2 – 3 Jahre im Kinderheim Speicher bei den Säuglingen als Kinderkrankenschwester

War es für Sie eine Umstellung, vom großen Köln ins kleine Speicher zu kommen?
Für mich war es keine große Umstellung von Köln nach Speicher. Ich war mit Leib und Seele bei den Kindern.
Danach war ich für 2 – 3 Jahre Mönchengladbach in einer Gruppe für behinderte Kinder.

Wie ging es dann für Sie weiter?
Von Mönchengladbach kam ich nach Köln in die Hollandstraße. Dort bin ich von den Kindern in die Altenpflege
gewechselt. Das war eine große Umstellung, aber ich bin gerne dort gewesen.

1977 bin ich nach Brück gekommen. Bis in die 90er Jahre bin ich dort in der Pflege gewesen. Dann bin ich aus der Pflege raus und bin jetzt „nur noch mit auf Station“. Für mich wäre es nichts, nur im Sessel zu sitzen. Ich muss die Kontakte haben.

Von 1977 bis heute ist eine lange Zeit. Welche Veränderungen haben Sie dort durchlebt?
Wir waren am Anfang mit 12 Schwestern in Brück. Heute sind wir noch Zwei. Dann wurde diverse Male umgebaut, was auch zur Folge hatte, dass ich schon 3-Mal innerhalb des Hauses umgezogen bin.

Wenn Sie auf all Ihre Berufsjahre zurückblicken, fällt Ihnen da ein ganz besonderer Moment oder ein Schlüsselerlebnis ein?
Zunächst mal fallen mir die vielen Veränderungen im Haus ein. Vieles war schön. Eine große Arbeitserleichterung kam mit dem Einsatz der Badezimmer in die Zimmer. Vorher mussten wir mit den Bewohnern oft weite Wege zurücklegen.

Wie erleben Sie Ihre Arbeit, in der Sie häufig Bewohner versorgen, die jünger sind als Sie?
Da kann ich nur sagen „Ich bin dankbar.“ Ich bin dankbar, dass ich noch arbeiten und alles machen kann. Wenn ich Bewohner sehe, die manchmal 10 oder mehr Jahre jünger sind, bin ich wirklich dankbar, dass ich noch tun kann, was ich tue. Auch, dass ich mich noch selbst versorgen, klar denken und organisieren kann. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Und ich habe in der Pflege viele jüngere Bewohner erlebt, auch sehr junge Menschen, die durch Unfälle oder Krankheiten zum Pflegefall geworden sind.

Gibt es einen Bewohner oder Bewohnerin, die Ihnen besonders ans Herz gewachsen ist?
Heute ist es so, dass die Bewohner ja gar nicht mehr lange da sind. Früher kamen die Bewohner als sie noch rüstiger waren und dann waren sie lange Jahre da. Da hat man schon eine Beziehung aufgebaut. Ich habe viele schöne Sachen erlebt. Aber auch andere Sachen.

Was fällt Ihnen zuerst ein? Die schönen oder die traurigen Momente?
Die Schönen. Auch mit den Kollegen. Ich habe heute noch Kontakt zu Kollegen, die damals mit mir da waren. Ich habe noch mit vielen Kontakt.

Wie viel arbeiten Sie noch pro Woche?
Ich arbeite auf 25 %. Ich mache pro Monat planmäßig 9 Tage à 5 Stunden. Bis Corona habe ich meine Dienste zwischen Haus Rosalie und Brück aufgeteilt. Seit Corona bin ich nur noch in Brück. Ich mache erst mal meine planmäßigen Dienste und darüber hinaus sehen die anderen dann, wenn ich komme.

Was hat sich sonst noch durch Corona für Sie verändert?
Da die Gefahr besteht, dass ich etwas einschleppe, muss ich doppelt aufpassen. Denn ich möchte nicht diejenige sein, die etwas reinbringt.

Sie haben gesagt, dass Sie anfangs in Brück mit 12 Schwestern waren. Wie ist für Sie die Zusammenarbeit mit den weltlichen Kolleginnen und Kollegen?
Gut. Ich komme sehr gut mit denen zurecht. Eine Kollegin kenne ich bereits seit über 30 Jahren. Als sie kam, gab es den Neubau noch nicht. Ich habe sie damals angelernt und wir arbeiten noch auf der gleichen Station zusammen. Es gibt viele Kollegen, die ich jahrelang kenne. Ich habe ein gutes Verhältnis zu denen. Und ich arbeite gerne auch mit jüngeren Kollegen. Ich fühle mich angenommen. Auch das ist nicht selbstverständlich.

Sie tragen auch außerhalb Ihrer Dienste Ihre Tracht, d. h. auch wenn Sie draußen auf der Straße unterwegs sind. Wie erleben Sie es, wie andere Menschen Sie auf der Straße wahrnehmen?
Früher kam schon mal des Öfteren vor, dass man etwas wie „Guck mal, ein Pinguin.“ oder so gehört hat. Das hört man gar nicht mehr. Ich habe jetzt noch daran gedacht, dass ich früher, wenn ich unterwegs war, auch immer mal wieder von jemandem, den ich gar nicht kannte, mit den Worten „Beten Sie für mich“ angesprochen wurde. Das habe ich dann auch gemacht.

Das ist die letzten Jahre aber überhaupt nicht mehr passiert.

Einmal stand ich auf dem Neumarkt und eine Frau kam auf mich zu und sagte, „Segnen Sie mich!“ Oder ich bin auch schon mal gefragt worden, „Haben Sie einen Rosenkranz für mich?“ Ich habe dann auch immer einen gegeben. Aber das sind Dinge, die passieren nicht mehr. Ich vermute, dass es auch an Corona, den Masken und dem Abstand liegt.

Wie erleben Sie aus Ihrer Wahrnehmung den Wandel in der Gesellschaft?
Der Mensch… Das Persönliche… Die Individualität… Das verändert sich sehr.
Man ist oft nur noch eine Nummer. Das ist ja schon, wenn man in ein Büro reinkommt. Die sitzen da vor ihren Bildschirmen und dann wird man erstmal nicht wahrgenommen. Die Sensibilität, das Feingefühl und das Gespür für den Menschen lassen nach. Der Mensch wird als Arbeitskraft wahrgenommen, aber nicht als der Mensch, der er ist. Das, denke ich, lässt nach.

Und wie erleben Sie das Miteinander in den Einrichtungen?
Also, ich muss sagen, dass ich ein Team habe, wo ich merke, die sehen noch. Unsere haben einen Blick dafür, wenn jemand Unterstützung braucht. Auch meine jungen Praktikanten haben ein Auge dafür. Aber wir haben auch untereinander ein gutes Verhältnis.

Wie erleben Sie es, dass es immer mehr Einrichtungen der Vinzentinerinnen gibt, in denen es keine Schwestern mehr gibt? Wie ist das für Sie?
Es ist schade. Es tut einem leid, dass keine jungen Menschen mehr da sind. Es tut mir grundsätzlich leid, dass so wenig junge Menschen nachkommen, denn es ist aus meiner Sicht ist die Tätigkeit einer Ordensschwester ein schöner Beruf. Aber das ist ja auch in der Pflege ganz ähnlich.

Ich denke, dass kann auch mit der Erziehung zusammenhängen. Wenn nichts Religiöses zu Grunde gelegt wird, woher soll das dann auch kommen? Und wenn sie nicht sehr sensibel sind, die leise Stimme der Berufung in sich zu hören oder wenn sie dann nicht unterstützt werden…

Wenn jetzt die ganzen Skandale und Missbrauchsskandale ans Tageslicht kommen – das bekommen die jungen Menschen ja mit. Ich denke, ein junger Mensch, der sich jetzt für den Priesterstand entscheidet – da möchte ich mal wissen, was der so alles gesagt bekommt. Wenn der sich outet und sagt „Ich möchte Priester werden“. Da wird Vieles auf die Ordensleute pauschal übertragen. Unter dem Motto „Die sind alle so“.

Sie haben gerade von der inneren leisen Stimme, die womöglich viele heute nicht mehr wahrnehmen oder hören, gesprochen. War das etwas, was Sie gehört haben?
Bei mir war das wie ein innerlicher Drang. Man betet ja auch und dann spürt man diesen Drang in sich. Und dann stellt sich die Frage, folgt man dem oder folgt man dem nicht? Bei mir war es so, dass ich mich von innen hergedrängt fühlte. Natürlich geht man so einen Schritt nicht sofort. Das hat Jahre gedauert.

Rückblickend betrachtet: Würden Sie sich wieder so entscheiden?
JA!

Was war für Sie persönlich in der gesamten Zeit der härteste Moment?
Der ist jetzt. Das wir überall immer weniger werden – in all den Häusern. Sonst waren auf jeder Station ein oder zwei Schwestern. Jetzt geht alles immer mehr zurück.

Man leidet auch unter der Situation der Kirche im Allgemeinen: Der Priestermangel oder auch die Entwicklung um die Organisation 2.0. Das alles sind Menschen, die vorher zur Institution Kirche gestanden haben.

Ich leide unter dieser Situation, dass muss ich ehrlich sagen.

Was möchten Sie Mitarbeitern, die Ihre Nachfolge antreten, mit auf den Weg geben?
Zunächst einmal, dass ich bei mir anfange und mich frage, „Lebe ich ihnen das, was ich mir von Ihnen wünsche, vor?“.

Ich hoffe, dass sie mich als Menschen sehen, der Verständnis für sie hat. In jeder Situation, in der sie sind. Dass sie mit einem sprechen können. Dass ich sie als Mensch akzeptiere – egal, in welcher Situation sie jetzt sind. Ich akzeptiere sie, so wie sie sind.

Und ich muss immer wieder an mein Gewissen appellieren und mich fragen: „Lebe ich ihnen das vor?“.

Wenn Sie sich die Frage stellen, „Lebe ich ihnen das vor?“, bemerken Sie dann auch schon mal für sich, dass Sie in bestimmten Situationen zukünftig auch anders handeln könnten?
Ja, jeder ist ja Mensch.

Wie handeln Sie?
Einfach als Mensch… Wenn ich nach meinem Gewissen und nach den christlichen Grundsätzen lebe, wenn ich das einfach lebe – dann braucht man gar nicht viel zu reden. Dann spüren die Menschen, die um einen herum sind, sie nimmt mich als Mensch wahr. Sie nimmt mich so wahr, wie ich eben bin. Der kann man auch mal etwas sagen. Und dass man auch schweigt, über das, was einem anvertraut wird.

Wenn man einfach dem Menschen begegnet, dann wird da keine große Nummer draus gemacht.

Und – sie mit ins Gebet nehmen! Meine Kollegen sind bei mir auch immer präsent im Gebet. Wenn ich weiß, irgendwer hat ein Problem, dann nehme ich das auch mit rein. Ich bin nicht der Mensch, der gerne große Worte macht.

Sie lassen lieber Taten sprechen?
Ich beobachte. Manche kommen auf einen zu. Andere nicht. Manchmal merkt man, es gibt Probleme. Ausgesprochen oder nicht ausgesprochen. Aber bei Kollegen, die man jahrelang kennt – da spürt man das. Man kann miteinander reden oder nicht.

Aber was man jederzeit tun kann, ist sie mit ins Gebet nehmen. Das Gebet ist ganz, ganz wichtig. Heute auch noch. Das kann man – auch wenn man älter wird und vielleicht irgendwann nicht mehr tätig sein kann – für alle Mitmenschen immer noch tun.

Ich bin ja nicht Christ für mich allein! Denn ich kann nicht irgendwann vor den Herrgott treten – „Hier, ich allein.“ Ich glaube das nicht. Nach meinem Dafürhalten nicht. Sondern der wird mich wahrscheinlich fragen, „Was ist mit den anderen, die in deiner Umgebung waren? Wie bist du denen begegnet?“. Das kann ich mir gut vorstellen.

Hatten Sie ein Hobby, das sie gerne gemacht haben, wenn Sie „Feierabend“ bzw. Dienstschluss hatten?
Ich hatte ehrlich keine Zeit für Hobbies. Früher, als wir noch jung waren, haben wir Teildienst gemacht. Frühdienst, Spätdienst und dann in der Mittagszeit eine Pause. Wir haben ja auch unsere Gebetszeiten oder das, was wir nach der Regel zu tun haben. Daher habe ich nie Zeit gehabt, Hobbies zu pflegen. Aber ich lese sehr, sehr gerne. Und ich gehe auch gerne spazieren.

Was lesen Sie?
Ich lese gerne Biografien. Und zwischendurch gucke ich Nachrichten oder eine Sendung, die gut ist.

Wie leben Sie? Haben Sie eine Wohnung für sich allein?
Wir beide, SR Ruth und ich, teilen uns eine Wohnung. Das ist eine Wohnung für ein Ehepaar. Die ist eingerichtet für 2 Personen.

Wenn man über so eine lange Zeit immer in Gemeinschaft ist, kam da irgendwann auch mal der Punkt, an dem Sie für sich gesagt haben, „Jetzt brauche ich einfach auch mal Abstand“?
Ja, doch. Das brauche ich auch. Ich brauche schon meine Zeit für mich. Meine Rückzugszeit. Neben der Zeit, in der man in Gemeinschaft ist, in der man gemeinsam die Mahlzeiten einnimmt, arbeitet oder betet, haben wir auch Zeit für uns. Die nehmen wir uns auch.

Und wenn ich die Zeit habe, fahre ich dann noch in den Dom. Da ist man auch noch unterwegs.

Und dann fahre ich auch regelmäßig Leute besuchen. Es gibt da zum Beispiel eine Frau, die habe ich im Haus Rosalie kennengelernt. Die war hier in der Notaufnahme und hatte einen Schlaganfall bekommen. Ich erinnere mich noch gut an die Nacht. Es war gegen halb drei, als ich gerufen wurde, ob ich mal kommen könnte. Ich bin dann hingegangen und habe sofort den Notarzt gerufen. Der war auch im Handumdrehen da. Sie kam in die Uniklinik und ist dann ins Wachkoma versetzt worden. Sie war wochenlang im Wachkoma. Ich bin dann immer wieder dorthin gefahren und die Sozialarbeiterin auch. Und dann irgendwann haben sie sie aus dem Wachkoma geholt – sie war damals auch noch keine 60 Jahre oder so um die 60 – dann ist sie auf die Godeshöhe gekommen, in die Rehaklinik. Sie konnte nicht sprechen, sie konnte nicht schlucken, aber sie haben sie dort wieder sehr gut in die Reihe gebracht. Sie konnte irgendwann wieder sprechen und schlucken. Aber, sie war ja in der Notaufnahme, d. h. sie war noch dazu wohnungslos. Sie ist dann nach Michaelshofen gekommen. Dann bin ich sie über ein paar Jahre immer in Michaelshofen besuchen gefahren.

Wo ist Michaelshofen?
Richtung Bad Godesberg. Das ist eine Einrichtung der Diakonie. Das ist ein ganz großes Gelände. Die haben da alles: Schule, Altenheim – alles Mögliche.

Und da war sie ein paar Jahre. Und dann hat die Diakonie in Köln-Mülheim gebaut. Da lebt sie heute. Und da gehe ich sie auch noch besuchen. So lange Jahre … Die hatte ja niemanden. Und so ist das dann geblieben.

Dann gibt es noch eine Bewohnerin. Sie ist mittlerweile tot. Das war auch so eine Odyssee. Sie war immer wieder hier. Und immer wieder weg. Sie ist immer wieder auf die Straße zurück, immer wieder weggelaufen. Sie war 2-3 mal hier. Sie wurde nie sesshaft. Dann sind auf der Straße ihre Füße erfroren und ihre Füße wurden teilamputiert. Sie war lange im Krankenhaus. Ich bin immer hingefahren, um sie zu besuchen. Da sie natürlich nicht im Krankenhaus bleiben konnte und sie ja wohnungslos war, stellte sich die Frage „Wohin?“. Daraufhin ist sie ins Bergische Land gekommen. Auch da bin ich hingefahren. Nachher war sie in Gummersbach. Dann bin ich auch dahingefahren.

Man weiß nicht genau, was passiert ist – eines Tages hat man sie wieder auf der Straße gefunden und da ist sie auch gestorben. Kein Mensch konnte das begreifen. Sie hatte sich dort, von außen betrachtet, sehr gut eingelebt – aber wir wissen es nicht.

Und dann gibt es noch eine gute Bekannte. Sie ist mittlerweile im SBK (Sozialbetrieb-Köln). Da fahre ich zwischendurch auch noch hin. Für sie ist es schwer. Sie ist gelähmt. Sie sitzt im Rollstuhl. Aber sie ist geistig ganz da und hat auch ein Studium hinter sich gebracht. Aber unter all den Bewohnern im Altenheim ist ja kaum jemand, mit dem sie reden kann. Da leidet sie sehr darunter. Oft, wenn ich komme, ist das Stimmungsbarometer unter null. Aber sie freut sich, wenn ich komme, dann kann sie mal wieder sprechen. Und meistens sagt sie dann, „Jetzt geht es mir wieder ein bisschen besser“. Und wenn ich nur das mache, Helfen kann ich ihr nicht! Ich kann sie nicht aus ihrer Situation herausholen. Das geht nicht. Das kann ich nicht.

Einwurf der Mitschwester Ruth:
Und dann sorgt sie sich noch um eine Frau. Diese lebt schon fast 30 Jahre in Deutschland und kann noch kein Deutsch. Bei allen Notlagen ruft sie jetzt SR Fidelia an.

SR Fidelia:
Sie habe ich auch hier kennengelernt.

Wie ist die Geschichte der Frau?
Sie kommt aus einer libanesischen Familie, in der mehr als alles schiefgelaufen ist. Die Kinder arbeiten nicht. Sie sind kriminell geworden; Drogen und Alkohol. Alles, was man sich so vorstellen kann, ist da passiert. Die kommt nicht auf die Beine. Das ist eine ewige Baustelle.

Wie alt ist diese Frau inzwischen?
Sie müsste so um die 60 Jahre alt sein.

Einwurf der Mitschwester Ruth:
Ich habe sie erlebt, als sie das zehnte Kind geboren hat.

SR Fidelia:
Mittlerweile ist sie auch sehr krank. Einige Söhne sind kriminell geworden und die Ehen der Töchter haben nicht gehalten. Da ist alles auseinander gegangen.

Wenn man nun Ihr Leben mit der Geschichte dieser Frau vergleicht, kann man sagen, dass die Gegensätze nicht größer sein können…
Da kann man wiederum nur dankbar sein.

Wenn man betrachtet, in welchen Situationen diese Menschen sind. Wenn ich hier Biografien so mancher Frauen im Haus Rosalie gehört habe, habe ich mich manchmal gefragt, „Was wäre aus dir geworden, wenn du in deren Situation gewesen wärst?“. Da kann man auch nur wieder „Danke“ sagen. Aber all das ist ja kein Eigenverdienst.

Ich hätte genauso in deren Lebensumständen groß werden können. Wo die Frauen vergewaltigt werden, wo Inzest und all diese Dinge – leider Gottes – den Frauen zu stoßen. Und da sprechen die auch nicht viel drüber. Auch wenn wir annehmen, dass die Frauen schwierig sind – wir wissen nicht, warum sie schwierig sind. Wer spricht gerne über Inzest?! Das geht nicht schnell. Das dauert manchmal ein halbes Leben, bis sie darüber sprechen können.

Warum sind Menschen manchmal eigenartig? Man kann diese Menschen einfach nur annehmen. Helfen? Meistens kann man nicht wirklich helfen. Man kann ihnen vielleicht Stellen aufzeigen, wo sie Hilfe haben können, aber wenn sie sie nicht in Anspruch nehmen, ist das wiederum eine andere Sache. Wir können die Wege aufzeigen, aber gehen müssen sie sie selbst. Wir können vielleicht ein Stück Wegbegleitung sein – ich bin einfach ein Stück Wegbegleiter.

Aber ich denke – diese kleinen Sachen, die man, auch wenn man alt ist oder als Schwester, die ja das Gebetsleben leben – die Möglichkeiten, die sind da. Die Möglichkeiten, die man hat, soll man nutzen.

Für große Dinge sind wir zu alt. Ich kann die Welt nicht mehr groß missionieren, was schön wäre. Oder als Medizinerin irgendwo in die Welt gehen – wunderbar. Aber das ist ja alles Utopie. Aber das kann man – die Gelegenheiten wahrnehmen, tun, was man noch tun kann.

Und darum bin ich einfach nur dankbar, dass ich noch meinen Kopf gebrauchen kann. Wenn der nicht mehr mitmacht, dann hört es sowieso auf. Manche haben ja schon in viel jüngeren Jahren Demenz. Bei manchen fängt das schon in den mittleren Jahren an. All die Menschen in den Altenheimen, die wir gepflegt haben. Das hat mir so leidgetan, die lernt man dann erst kennen, wenn sie schon krank sind. Wenn sie schon vielleicht ihre eigenen Kinder nicht mehr erkennen oder uns als ihre Kinder ansehen.

Eine Bewohnerin hat immer gemeint, ich wäre ihre Tochter. Da muss man mitspielen. Wenn ich sie morgens versorgt habe, haben wir alles Mögliche gesponnen. Dann hat sie Gäste eingeladen und wir haben überlegt, was man kochen soll. Ich habe einfach mitgespielt. Das war so eine liebe Frau. Die ist dann an einem Heiligabend verstorben. Wir hatten Kollegen, die an diesem Tag schon früher gingen. Aber da wir gesehen haben, dass es ihr nicht mehr gut ging, kamen alle, um sich von ihr zu verabschieden. Wir standen alle um ihr Bett herum. Es war zwölf und dann fing der Sohn an, „Den Engel des Herrn“ zu beten. Und in diesem Moment ist die Frau verstorben.

Was einem so wieder einfällt, zu manchem Bewohner…

Eine Bewohnerin hatte einen haushohen Blutdruck. Ich habe natürlich den Notarzt geholt, weil das meine Pflicht war. Und dann kam ein Notarzt. Der saß am Tisch und schrieb ein Rezept. Das war ein polnischer Arzt, der war Gynäkologe. Damals gab es die reinen Notfallpraxen noch nicht. Während er am Tisch saß und schrieb, ertönte aus einmal aus dem Bett die Stimme der Frau mit den Worten „Dat is aber ne schöne Doktor“ Der war wirklich gutaussehend. Aber sie müssen sich vorstellen – in dem Zustand – das war urkomisch. Danach war das für mich immer „de schöne Doktor“.

Noch eine Frage zum Sterben. Sie haben mit Sicherheit viele Menschen beim Sterben begleitet – wie nehmen Sie diesen Moment wahr? Dieses sich aus dem Leben verabschieden?
Es ist ja eigentlich unser Ziel. Wir wissen, dass wir nicht hierbleiben. Dieses Leben sehe ich als Aufgabe an, damit ich zu diesem Ziel komme. Einfach als Übergang.

Wie erleben Sie die Sterbenden? Man sagt ja, dass Menschen, die ihr Leben gelebt haben und die ein erfülltes Leben gelebt hatten, leichter gehen können als Menschen, die ein schweres Leben und noch Unerledigtes haben. Ist das etwas, das Sie auch so wahrnehmen?
Ja.

Jeder stirbt seinen Tod. Ich habe viele erlebt, die sind so ruhig gegangen. Dieser Übergang war so ruhig. Eine Bewohnerin hat gelächelt. Die ist mir in Erinnerung geblieben. Die hatte ein Strahlen im Gesicht.

Man sieht dagegen aber auch andere, die sich auflehnen. Die mit der Situation überhaupt nicht fertig werden. Ich habe mich auch mit Elisabeth Kübler-Ross beschäftigt, die hat ja diese 5-Phasen beschrieben. Und wenn man das so über die Jahre beobachtet – die Menschen machen wirklich die Phasen durch. Da müssen wir als Pflegende auch begreifen, dass wenn wir beschimpft werden – da bekommt man dann alles Mögliche an den Kopf geworfen – dass ich das nicht persönlich nehme. Die müssen ihren ganzen Frust loswerden, weil sie mit der Situation nicht fertig werden. Dass sie das nicht akzeptieren können, dass sie jetzt alles loslassen müssen.

Aber manche schaffen es auch so gelassen und friedlich gehen zu können. Aber ich habe es eben auch anders erlebt mit Menschen, die sich aufgelehnt haben. Da gibt es keine Regeln. Jeder stirbt seinen Tod.

Wenn Sie jetzt an die Zukunft denken, was macht Ihnen besonders Sorgen?
Das auch die Werke weitergeführt werden und dass dies im vinzentinischen Sinne geschieht.

Was denken Sie, unterscheidet das Vinzentinische von anderen?
Der Mensch. Für Vinzenz war der Mensch im Mittelpunkt. Nach Vinzenz begegnet mir im anderen Menschen Gott.

Gibt es noch etwas?
Schwestern sind Menschen wie jeder andere auch. Es sind keine anderen Menschen.